Bild von: https://pixabay.com/de/users/yogendras31-12827898/

Lesedauer: 8 Minuten

Stellt euch folgendes Szenario vor: Ihr steht auf und schon beginnt die Angst – die Angst vor dem kommenden Tag. Der Grund dafür? Das Normalste des Normalsten, die gewöhnlichsten Alltagsgeräusche treiben einen in den Wahnsinn. Richtig gehört, das Tippen einer Tastatur oder auch die leisesten Kaugeräusche werden zu den übelsten Albträumen. Das Leiden wird Misophonie genannt und ist verbreiteter, als man erstmal denken mag, vermutlich 5% der Weltbevölkerung leiden an der neurologischen Krankheit, doch die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch höher.

Was ist Misophonie?

Das Hören von sogenannten „Triggern“, Geräusche, die misophonische Reaktionen bei jemandem auslösen, können Wut, Panik, Ekel, Verzweiflung und den Drang zur Isolation auslösen und wie immense Provokation auf die Betroffenen wirken. Dies passiert oft schon beim ersten Kontakt mit einem Trigger.
Die Trigger selbst variieren und sind individuell, somit kann bei dem Einen beispielsweise Kugelschreiberklicken zum Albtraum werden, beim Anderen löst dies aber keine emotionale Gefühlsreaktion aus.
Misophonie ist nämlich nicht nur ein reguläres genervt sein – Ja, jeder hasst es, wenn Leute am Esstisch keine Tischmanieren aufweisen und meinen, laut schmatzen zu müssen, doch der typische Nicht-Misophoniker wird wohl nicht konstant das Gefühl haben, dem Gegenüber eine gewaltige Backpfeife zu verpassen und all seine Wut auf ihn herabzuschreien. Die Folgen der Misophonie können vielfältig und fatal ausfallen, vor allem für die Betroffenen, doch auch für die Angehörigen. Dazu kommt auch noch die Tatsache, dass junge Misophoniker in der Schule stets ihren Triggern ausgesetzt sind. Der immense Stress, der allein durch die Angst vor den Geräuschen und die damit einhergehende Gefühlsreaktion ausgelöst wird, sollte nicht aus den Augen gelassen werden. Misophonie ist ein sehr unbekanntes Leiden und erst ziemlich neues Gebiet der neurologischen Forschung – Was kann man nun als Betroffener gegen die Misophonie tun, wie können wir als Angehörige verständnisvoll und hilfreich agieren, und vor allem, wie kann man sich Misophonie als Nicht-Misophoniker vorstellen?

Wie fühlt sich Misophonie an?

Als Betroffene wisst ihr wovon ich rede – Das stechende Eindringen in die Privatsphäre eines unerwarteten Triggers, die niemals endenden Schulstunden gefüllt von einer ungesunden Anzahl an schniefenden Klassenkameraden, der gigantische Hass auf laut atmende Leute, die eigentlich deine besten Freunde sind.
Misophonie fühlt sich schrecklich an, das ist klar. Doch wie kann man sich das als Nicht-Misophoniker vorstellen? Diese Frage zu beantworten fällt gar nicht mal so leicht, da man die Gefühlsreaktion der Misophonie selbst erlebt haben muss, um diese hundertprozentig nachzuvollziehen, so beschreiben es viele Betroffene.
Die Stärke der Misophonie ist natürlich Individuell und jeder nimmt die störende Geräusche auf unterschiedliche Art und Weise war, doch viele Misophoniker würden es einem in etwa so schildern: Der erste Trigger schlägt ein wie eine Bombe. Man ist geschockt und schon im nächsten Moment beginnt die Angst, da die Chance hoch steht, den Trigger nun in noch höherer Quantität durchleben zu müssen.
Allein die Angst vor dem nächsten Trigger übernimmt die Kontrolle über den Körper und die Gedanken. Wenn dieser dann eintritt, spürt man einen gewissen Hass – ein Hass auf das Geräusch, welcher allerdings auch oft auf die triggerauslösenden Personen bezogen werden kann. Ja, die Person hatte wahrscheinlich nicht die Intention, die Misophonie bei dem Betroffenen auszulösen, doch der pure Hass, der durch die Misophonie in diesem Moment ausgelöst wird, lässt Einen dies vergessen.
Die Sekunden nach dem Trigger fühlen sich so an, als ob die Zeit stehen bleibt. Wenn man beispielsweise im Unterricht ist, fällt es oft schwer, sich auch nur ansatzweise zu konzentrieren. Wieso auch, wenn man damit beschäftigt ist, die triggernde Person in seinen Gedanken zu verfluchen?
Was man dabei nicht vernachlässigen sollte, ist, dass man sich während und nach dem Trigger sehr stark in seiner Privatsphäre angegriffen fühlt, als ob die triggernde Person alles über einem weiß und nicht davor zurückschreckt, einem mit Triggern bewusst zu schaden, was natürlich meistens nicht der Realität entspricht. Somit ist es oftmals wie ein Reflex von Misophonikern, bestimmte Geräusche intensiv und oft übertrieben nachzuahmen, um den schockartigen Stress, der durch die Gefühlsreaktion entsteht, schnell wieder abzubauen.
Dieses Verhalten kann unter Anderem zu sozialer Ausgrenzung führen, auch, wenn man nicht die Absicht dazu hatte, die Anderen mit Nachahmungen der eigenen Stimme oder Verhaltensweise zu verletzen.
Und all das, nur weil der Sitznachbar einen gewöhnlichen Schnupfen hat.

Wie entsteht Misophonie?

Bedauerlicherweise ist die Misophonie im Bereich der neurologischen Forschung noch sehr unbekannt und nicht gerade fortgeschritten. Dennoch gibt es mehrere Vermutungen, wie sich die Misophonie vereinzelt bilden kann.
Die am weitesten verbreitete und belegte Vermutung findet den Ursprung schon im Kindesalter. Prägende Extremsituationen bzw. Trauma in der Kindheit wird im Gehirn auch unterbewusst mit den Geräuschen in den besagten Situationen verbunden. Wenn man nun ein Geräusch hört, welches mit einem traumatischen Erlebnis verbunden wird, wird im Gehirn eine Abwehrreaktion ausgelöst, eine starke und provozierende Gefühlsreaktion, wahrscheinlich als Zeichen dazu, dass man sich vom triggernden Ort distanzieren sollte um ein ähnliches Ereignis wie eines, was man bereits erlebt hat, zu vermeiden.
Ein Beispiel für eine solche Situation wäre wohl ein Streit mit den Eltern am Esstisch – die Auseinandersetzung wird dementsprechend mit den Kaugeräuschen der Eltern während dem Essen verbunden und als Abwehrreaktion des Gehirns werden starke Wut, Ekel und ein Angriff auf die Privatsphäre ausgelöst.
Dementsprechend kommt es häufiger vor, dass man misophonische Reaktionen in der Nähe von Bekannten wie Familie oder Freunde durchlebt, da man diese besser kennt und somit neben den vielen guten Erlebnissen auch schlechte hat wie z.B. Streit.

Kann man Misophonie behandeln?

Bedauerlicherweise gibt es noch keine Informationen bezüglich einem allgemein geltenden Therapieansatz für Misophoniker, jedoch wurden bereits mehrere Einzelfallstudien durchgeführt, die Methoden beschreiben, welche aber nicht auf alle Betroffenen zutreffen müssen.
Eine Methode, die oft verwendet wird, ist die Tinnitus-Retraining-Therapie. Das mag erstmals verwirrend klingen, da Tinnitus eher eine interne Störung ist, Misophonie hingegen entsteht durch eine Reaktion auf externe Geräuschequellen. Dennoch wurde die Methode für Misophonie adaptiert und verzeichnet vereinzelnt Erfolge. Die Therapiemethode besagt, dass man die neuronalen Verbindungen, die einen Trigger auslösen, „löschen“ soll, indem man diese mit Geräuschen verbindet, die man mit positiven Erlebnissen assoziiert. Dieses Prinzip wird auch „Extinktion“ genannt.
Ein ähnliches Verfahren ist die sogenannte „Entkonditionierung“ oder auch „Gegenkonditionierung“, bei der man das negativ wahrgenommene Geräusch mit einem positiven Erlebnis im Bezug auf den Trigger verbinden soll, um die Reaktion auf den Trigger abzumildern. Diese Methode ist einer von vier Techniken, welche auch als „kognitiv-verhaltenstherapeutische“ Techniken bekannt sind. Diese besagen unter anderem, dass Konzentrations- und Entspannungsübungen wie z.B. Atmungsübungen beim Kontakt mit einem Trigger hilfreich seien können.
Letztendlich ist die Behandlung der Misophonie sehr individuell und selbst nach Jahren an Therapiemethoden wird man das Übel nie ganz los, man wird es nur abmildern können, solange es noch keine weiteren wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt. So zumindest schildern es die Einzelfallstudien.

Was können wir nun tun?

Das Beste, was man als Angehöriger nun tun kann, ist ganz einfach: Macht euch bewusst, dass Misophonie existiert und dass sie gar nicht mal so selten ist. Nehmt euch ein „Kannst du bitte leiser kauen?“ oder „Kannst du bitte aufhören zu schniefen?“ nicht zu Herzen und das nächste Mal, wenn jemand euch ein Taschentuch anbietet, nehmt es dankend an.
Falls ihr selber von Misophonie betroffen seid, schreckt nicht davor zurück, mit Freunden und Familie über euren Hass auf Geräusche zu reden, denn schaden wird es sicherlich nicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert