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Vor wenigen Wochen wurde die Redaktion von einer ehemaligen Schülerin angeschrieben, die in den letzten Jahren an schweren Essstörungen litt, diese zum Glück aber inzwischen überwunden hat. Da dieses Thema für junge Menschen sowieso relevant ist, die Ursachen ihrer Erkrankung aber auch mit ihrer Schulzeit zu tun haben und Aufklärung bei diesem gesundheitlichen Thema weiterhin sehr wichtig ist, bietet die magnus. ihr sehr gerne ein Forum, um anonym über ihre Erfahrungen zu berichten.

Essstörungen sind die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterberate bei Jugendlichen. Prävention muss meiner Meinung nach essentieller Bestandteil der Schule werden. Ich selbst habe mehere Jahre unter einer Essstörung gelitten. Heute möchte ich meine Geschichte erzählen.

Ich war eine sehr zurückhaltende Schülerin. Ich beteiligte mich kaum am Unterricht, war angespannt, weil ich Angst hatte drangenommen zu werden. Ich fühlte mich innerhalb meiner Kurse unwohl, gehörte nie wirklich dazu und wurde kaum wahrgenommen. Ich hatte kein Selbstvertrauen und sagte lieber gar nichts als das Falsche.

Mit Beginn des Studiums wollte ich endlich dazugehören. Ich wollte gesehen werden und die Anerkennung und Wertschätzung bekommen, nach der ich mich so lange schon gesehnt habe. Ich wollte mich endlich wertvoll fühlen.

Ich begann exzessiv Sport zu machen, schloss mich einer Leistungssportgruppe an und trainierte täglich. Mein Tag begann um halb sechs, endete um elf Uhr und war trotzdem nicht lang genug. Ich las täglich drei Tageszeitungen und bereitete meine Vorlesungen akribisch vor. Ich las Biografien, Politik- und Wirtschaftsmagazine und guckte mir online Vorlesungen der höheren Mathematik an. Ich optimierte meinen Tag, indem ich während des Duschens die Tagesschau sah, im Bus zeitgeschichtliche Podcasts hörte und Romane auf Französisch las. Ich ging nicht mehr zur Uni, da die Vorlesungen für mich Zeitverschwendung waren. Dementsprechend saß ich alleine in meinem Zimmer und erarbeitete mir die Themen eigenständig. Ich hatte kaum Zeit für Freunde und ging am Schützenfest lieber 20km laufen, als ins Festzelt feiern. Es stand ja so auf meinem Trainingsplan.

Ich hatte sehr gute Noten und ein großes Allgemeinwissen. Ich wusste immer, was wo in der Welt abgeht, konnte endlich mitreden und vor allem war ich dünn und sportlich, zielstrebig und diszipliniert. Durch den Sport und die restriktive Ernährung nahm ich ab. Für mich war die Abnahme ein Zeichen von Disziplin, es war jedes Mal wieder ein Erfolgserlebnis. Ich sah es als Stärke, als eine Fähigkeit von mir. Ich strahlte Kontrolle und Ehrgeiz aus. Doch ich war nie genug. Es ging immer noch etwas besser, noch etwas schneller, noch etwas dünner. Mein Ziel war es zwar nie, bewusst abzunehmen, aber jede Zunahme oder Stagnation bedeutete für mich Versagen. Ich war gefangen im Perfektionismus. Gefangen in essgestörten Gedanken, die mein Leben bestimmten.

Doch ich sah das nicht. Meine Mama war es, die mich mit der Realität konfrontierte. Sie machte sich große Sorgen, redete mir immer wieder ein, ich solle in eine Klinik gehen, und wies mich ständig darauf hin, wie schlecht es mir doch ging und wie abgemagert ich doch sei. Anfangs habe ich abgeblockt. Ich dachte, ich hätte alles im Griff. Dabei hatte die Magersucht mich im Griff. Langsam gestand ich mir ein, dass ich mich selbst belog und mein ganzes Leben, das so perfekt schien, brach plötzlich in sich zusammen. Ich fühlte mich als Versager. Ich hatte täglich Ess-Anfälle, erbrach und hungerte. Ich schluckte Abführtabletten mit Alkohol runter, isolierte mich von meiner Familie und Freunden. Ich hatte keine Kraft mehr, keine Energie, um zu leben.

Der Moment, in dem ich nach dem Erbrechen auf einer Supermarkttoilette zusammengebrochen bin, hat mich wachgerüttelt. Ich konnte so nicht weiter machen, nahm meinen ganzen Mut zusammen und entschied mich eine ambulante Therapie zu machen. Ich hatte sehr große Angst und ich habe mich extrem geschämt, aber es war der Anfang meiner Heilung.

Heute fühle ich mich stark, ich habe Selbstvertrauen und ich möchte mich dafür einsetzen, dass die Schule ein Ort wird, an dem einer steigenden Zahl von psychisch erkrankten Jugendlichen entgegengewirkt wird. Ich wünsche mir, dass Lehrerinnen dafür sensibilisiert werden, Anzeichen einer psychischen Erkrankung wie eine sozialen Phobie, eine Depression oder eine Essstörung zu erkennen, um professionell damit umzugehen. Dass Schulen den Rahmen schaffen, um Eltern über psychische Krankheiten aufzuklären und sie dafür zu sensibilisieren, wachsam zu sein, und ihnen mögliche Kontakt- und Anlaufstellen bereitstellen. Ich wünsche mir, dass Schülerinnen wertgeschätzt werden, als Mensch gesehen werden und den Raum bekommen, ihre Identität zu finden.

Und von tiefem Herzen wünsche ich mir: Wenn du das liest und dich in den essgestörten und depressiven Gedanken wiederfindest, dann rede mit jemandem. Es ist egal, ob mit deiner Freundin, deiner Familie, deinem Lehrer oder einem Therapeuten. Die Essstörung hat mich einen so kostbaren Teil meines Lebens (die Abizeit und den Beginn meines Studiums) nicht leben lassen. Ich wünsche mir für dich, dass du dein Leben leben kannst.

Solltest du persönlich betroffen sein oder jemanden kennen, der an diesen Problemen leidet, empfiehlt die Autorin dieses Texts als erste Hilfsmaßnahmen das Kinder- und Jugendtelefon (auch bekannt als “Nummer gegen Kummer”), welches anonym und kostenlos unter 116111 montags bis samstags erreichbar ist, oder die Erziehungsberatungsstelle Cloppenburg.

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