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Es riecht nach Neubau. Der Raum hell erstrahlt. Aufgeregte Schüler führen uns zum Platz. Die Schulleiterin ergreift das Wort. Es ist der 9. November. Gedenkveranstaltung in der Elisabethschule. Ein symbolisches Grablicht für unsere Schule soll abgeholt werden. Als Erinnerung an den 9. November 1938. Heute vor 84 Jahren brannten Synagogen in ganz Deutschland, auch bei uns, genau hier.
,,Das, was damals passiert ist, darf sich nie wiederholen”, heißt es in jeder der Reden. Das weitergegebene Licht soll uns das vor Augen führen. Und während ich zuhöre, Schülern bei der Vorstellung ihrer Friedenslichter zuschaue und auf das große, präsent leuchtende Grablicht blicke, kommt bei mir der Gedanke auf: Machen wir es uns damit nicht eigentlich zu leicht? Ist diese Form der Erinnerung letztendlich doch nur für unser Gewissen? Was bleibt?
,,Das, was damals passiert ist, darf sich unter keinen Umständen wiederholen.”
Und morgen, nein, schon in einer Stunde geht das alltägliche Leben wieder weiter. Dann beschimpfen wir wieder das langsam fahrende Auto vor uns und beschweren uns darüber, dass unser Lieblingsbrötchen schon wieder 10 Cent teurer geworden ist, obwohl wir uns das doch ohne Probleme leisten können. An das, was damals vor über 80 Jahren geschehen ist, denkt dann niemand mehr. Für unser Gewissen haben wir ja schon genug getan: So wie es war, darf es nie wieder sein und weiter geht’s.
Der Gedenktag ist dann eben doch nur ein Tag. An 364 anderen Tagen herrscht der Alltag. Ein ausgewählter Tag nur zum Gedenken, das erzeugt zwar Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, die Zeitung am Morgen, der Radiosender am Feierabend und die Tagesschau Sendung am Abend überschattet mit Meinungen, Rückblicken und Reden, aber morgen ist davon dann nichts mehr übrig und die gestrige Anteilnahme ist schon längst wieder vergessen.
Langfristige, konstruktive Reflexion, die nicht nur unserem Gewissen dient und die im Hier und Jetzt etwas verändert, sieht anders aus.
Doch wie können wir den Fokus auf die Gegenwart richten, ohne das Gestern zu vergessen? Wie zeigen wir den Angehörigen einerseits, dass wir sie nicht vergessen haben, zeigen den Bedürftigen heute andererseits aber auch, dass wir auch sie im Blick haben? Die Frage nach der richtigen Erinnerungskultur ist keine leichte.
Wie können wir die gesamte Gesellschaft sensibilisieren und an einer konstruktiven Reflexion teilhaben lassen, wenn doch die wenigsten von uns Experten in diesem Gebiet sind?
Auch heute gibt es noch Antisemitismus. Auch heute gibt es noch nicht überall auf der Welt Frieden. Davon sind wir noch weit entfernt. Konflikte und Probleme zum Lösen gibt es heute durchaus genug und eine Lichterweitergabe in einer kleinen Stadt irgendwo in Deutschland in einer hell beleuchteten, neu gebauten Eingangshalle kann diese sicherlich nicht lösen. Also das Geld dann doch besser in Projekten und Forschung stecken? Erinnerung, Reflexion und Veränderung den Experten überlassen?
,,Hier für dich” – Eine freundliche Schülerin gibt mir ein selbstgemachtes blau-gelbes Armband. Strahlende Augen blicken mich gespannt an. Mein Blick auf das Friedensband. Muss es denn überhaupt immer gleich die große Lösung sein? Ist nicht das Zeichen, das Symbolische hinter dieser Aktion, viel wichtiger?
Auf der Leinwand läuft ein Film der ersten Klasse. Ein großer Fisch frisst den kleinen Fischen ihr Essen weg. Die kleinen Fische reden mit dem großen Fisch und schlussendlich essen alle friedlich zusammen. Es muss nicht immer eine rationale Lösung der großen Weltprobleme sein. Nicht jeder muss Experte in einem Thema sein, damit er sich mit diesem beschäftigen darf.
Es geht um unser Zusammenleben als Gesellschaft und das geht uns alle etwas an, egal ob Erstklässler oder Doktorand. An einem solchen Tag wie dem 9. November sollte jeder zunächst einmal auf sich selbst schauen, sein Handeln reflektieren und im Kleinen Veränderung bewirken. Und was für den einen der geschlossene Friedensvertrag mit dem Nachbarstaat ist, ist für den anderen eben ein selbst gemachtes Friedensarmband oder eine Geschichte über friedliche Konfliktlösung.
Das Endwort gesprochen, das Licht übergeben, Menschenmengen und aufgebrachte Schüler strömen wieder durch das Gebäude. Die ersten Streitigkeiten schon im Hintergrund zu hören. Geht der Alltag jetzt wieder los? Was bleibt? Was bleibt morgen; was bleibt nächstes Jahr? Das blau-gelbe Band wird mich nicht nur beim Schreiben dieses Textes an die strahlenden Augen der Schülerin erinnern. Das bleibt.
Jedes Jahr zum 9. November wird ein ehemaliges Grablicht aus Polen von Schule zu Schule im Nordkreis Cloppenburgs weitergegeben. Das Licht soll an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 erinnern. Zuletzt war die Elisabethschule Besitzer des Lichtes. Am 9. November 2022 wurde es in einer Gedenkveranstaltung in der Elisabethschule an das Albertus-Magnus-Gymnasium übergeben. Für das AMG waren Herr Kramer, Herr Jansen und Vertreter der SV sowie der Schülerzeitung vor Ort. Die Schule, die in Besitz des Lichtes ist, muss sich nun intensiv mit dem Thema auseinandersetzen.