Lesedauer: 13 Minuten

Stell dir vor, du lebst in einer Welt, in der du eine geringere Bezahlung bei gleicher Arbeit bekommst. In der deine Wahrscheinlichkeit, Opfer von sexueller Gewalt zu werden, deutlich höher ist. Und in der du aufgrund deines Geschlechts systematisch benachteiligt wirst.

Glückwunsch, wenn du erkannt hast, auf was ich hinaus will. Wenn nicht, hier nochmal nur für dich: Ich spreche vom Leben jeder Frau! Um den Alltag in einem solchen etwas anschaulicher zu machen, begleiten wir im Folgenden die alleinerziehende Claudia, die ein fiktives, aber sehr realistisches Beispiel darstellt, wie ihr sehen werdet.

7:30 Uhr Claudia steht auf und nutzt ihre kurze freie Zeit, um sich im Badezimmer fertig zu machen. Denn bereits etwas später wacht Lennox, ihr 4-jähriger Sohn, auf. Sie hilft ihm beim Anziehen und im Badezimmer. Danach frühstücken sie zusammen.

8:15 Uhr Claudia und Lennox steigen mit Verspätung ins Auto, da Lennox sich geweigert hatte, seine Schuhe anzuziehen. Hierbei ist ihre Wahrscheinlichkeit, ernsthaft bei einem Unfall verletzt zu werden 47 % höher als bei einem Mann.

Doch worauf lässt sich diese höhere Wahrscheinlichkeit zurückführen? Nein, definitiv nicht auf die Fahrkunst von Frauen, welche von vielen als schlecht und unzurechnungsfähig eingestuft wird, sondern auf die Crashtest-Dummys. Diese sind fast ausschließlich auf Männer ausgelegt, genauer gesagt auf eine Körpergröße von 175 cm und ein Gewicht von 78 Kilogramm. Zwar gibt es seit ein paar Monaten ,,Eva’’, welche den ersten weiblichen Dummy darstellt, allerdings muss dieser auch für jedes Auto verwendet werden und hätte bereits viel früher entwickelt werden müssen. Somit besteht die deutlich höhere Gefahr, also noch in fast allen Autos.

8:30 Uhr Die beiden kommen im Kindergarten an und die Kindergärtnerin beschwert sich über die erneute Verspätung. Claudia entschuldigt sich und fährt schnell zu ihrem Teilzeitjob weiter. Bei ihrer Jobwahl hatte sie kaum eine Wahl, da die Öffnungszeiten des Kindergartens und der Haushalt es nicht zulassen, Vollzeit zu arbeiten.

8:45 Uhr Sie kommt unpünktlich bei ihrem Job als Bürokauffrau an und begrüßt alle sehr nett.

In dieser Branche verdienen Frauen durchschnittlich 20% weniger als Männer. Das heißt in Zahlen ausgedrückt 3141 Euro anstatt 3971 Euro brutto. Somit zeigt sich der Gender Pay Gap, der ebenfalls in anderen Branchen stark deutlich wird. Allgemein liegt der Gender Pay Gap in Deutschland bei 18% (Stand 2021).

Der Unterschied entsteht durch verschiedene Aspekte. Ein Grund ist, dass Frauen weniger in Führungspositionen eingesetzt werden. Dies liegt vor allem an Stereotypen, welchen Frauen die Fähigkeiten zum entsprechenden Beruf absagen oder nur für sie sprechen, wenn es ,,Frauenberufe’’, also soziale Berufe sind. Diese Berufe sind meist unterbezahlt, was den gesellschaftlichen Wert der Frauen widerspiegelt. Außerdem befürchten Arbeitnehmer Unterbrechungen durch eine mögliche Schwangerschaft und Elternzeiten, welche von Männern deutlich weniger genutzt werden als von Frauen, da von den Frauen erwartet wird, sich nach der Geburt beruflich zurückzuhalten.

16:00 Uhr Claudia kommt von ihrer Arbeit zurück und holt Lennox vom Kindergarten ab. Nun beginnt ihre unbezahlte Arbeit, die sogenannte Care-Arbeit. 

Durchschnittlich verbringen Frauen täglich 52,4 % mehr Zeit mit der Care-Arbeit als Männer, dies ist ein Unterschied von 1 Stunde und 27 Minuten. Bei 34-Jährigen liegt dieser Unterschied sogar bei 2 Stunden und 31 Minuten. Diese Differenz lässt sich auf einen deutlich höheren Anteil an teilzeitbeschäftigten Frauen als Männern zurückführen. Dadurch entsteht ein weiteres Problem: Eine große Altersarmut unter Frauen. Denn durch ihr geringeres Einkommen erhalten sie auch eine geringere Rente. Hierbei lag die Armutsgefährdungsquote in 2021 bei 19,3%.

20:00 Uhr Lennox Großmutter kommt vorbei, denn heute nimmt Claudia sich mal Zeit, um nach langer Zeit mal wieder mit ihren Freundinnen auszugehen.

21:00 Uhr Claudia und ihre Freundinnen kommen in einer Bar an. Sie genießen den Abend, trinken Wein und lachen über alte Geschichten.

Sie kommen kurzzeitig auf das Thema ,,Catcalling’’, also auf das Hinterherrufen sexueller Ausdrücke oder Pfeifen von Männern. Jede von ihnen berichtet von ihren Erfahrungen und sie fühlen sich gegenseitig verstanden, doch sind gleichzeitig bedrückt, dass jede von ihnen solche Erfahrungen machen musste. Keine von ihnen wandte sich an die Polizei, denn diese verbale sexuelle Gewalt ist nicht strafbar. Und auch sonst redeten sie kaum darüber, denn wenn sie es taten, kamen Fragen wie ,,Was hattest du denn an?’’ oder Aussagen wie, ,,Mit dem Outfit ist es auch kein Wunder’’. Damit wurden sie als Opfer zu den Schuldigen gemacht.

23:00 Uhr Sie begeben sich auf den Heimweg.

Im Dunklen – eine Situation, die wohl bei jeder Frau und weiblich präsentierenden Personen ein unruhiges Gefühl weckt.

Die letzten Meter bezwingt Claudia alleine, die Schlüssel zur Abwehr in der Hand. Die Angst steigert sich Meter für Meter. Besonders, da sie zuvor schon gewaltsame Erfahrungen gemacht hat. Nur nicht auf der Straße, sondern in ihrem eigentlich sicher wirkenden Zuhause. Ihr Mann und Vater von Lennox, war nicht nur ein hart arbeitender Ehepartner, sondern auch ein Mann, der schnell überreagierte. Er fügte Claudia sowohl physische als auch psychische Gewalt zu. Endlich erreicht sie ihr Zuhause und sie fühlt ein befreiendes Gefühl, denn seit der Scheidung ist ihr Zuhause ein sicherer Ort geworden. Ein langer Tag geht vorbei. 

Natürlich verläuft nicht jeder Tag jeder Frau genauso wie dieser, aber für viele Frauen ist häusliche Gewalt Alltag, genauso wie Sexismus und Stereotype. Gewalt im eigenen Zuhause wie bei Claudia, Gewalt in öffentlichen Bereichen oder sexualisierte Gewalt erleben viele Frauen, genauer gesagt jede dritte Frau in Europa. Also ja, die Wahrscheinlichkeit, dass eine deiner Freundinnen, deine Mutter oder du selbst Opfer von Gewalt werden oder bereits wurden, ist sehr hoch.

Jede dritte Europäerin erfährt Gewalt in ihrem Leben – und das hat strukturelle Gründe

Jetzt stellt sich noch die Frage, was die hohe Rate an Gewalt gegen Frauen mit patriarchalen Strukturen zu tun hat. Dazu ist zunächst unbedingt zu wissen, dass der Großteil der gewaltsamen Übergriffe von

Männern ausgeht. Laut Studien wird sexualisierte Gewalt in Deutschland zu 99% von Männern betrieben. Und physische Gewalt führte 2019 dazu, dass jeden dritten Tag eine Frau von ihrem (Ex-)Partner getötet wurde.

Beide Arten der Gewalt lassen sich auf patriarchale Strukturen und Traditionen zurückführen. Durch die gesellschaftliche Stellung der Frau und des Mannes werden Machtpositionen geschaffen. Während die Frau durch Attribute, wie emotional, schwach und untergeordnet definiert wird, werden Männer durch Dominanz, Stärke und Disziplin beschrieben.

Dem Mann wird also in der Gesellschaft eine höhergestellte Rolle zugeschrieben, weshalb ihm ebenfalls zugesprochen wird, seine Familie ernähren zu müssen. Trifft diese Machtposition dann auf eine selbstbewusste Frau, kann es zu einem Ausbruch der Gewalt kommen, da der Mann seine Machtposition als bedroht empfindet.

Oftmals liegen die Wurzeln dieser Stereotypen bereits in der Erziehung, Männern wird beigebracht, ihre Gefühle nicht zu äußern, dies wird als ,,toxische Maskulinität’’ beschrieben. Dadurch lernen sie nicht, mit ihren Gefühlen über Kommunikation umzugehen, sondern andere Wege, wie Gewalt, zu nutzen. Diese Gewalt im Kindesalter wird jedoch oftmals verharmlost oder als typisches Verhalten von Jungs abgetan.

Des Weiteren wird bereits direkt nach der Geburt stark auf das Geschlecht geachtet. Besonders durch die Kleidung, die meist in pink für Mädchen und blau für Jungen geteilt wird. Betritt man ein Spielzeuggeschäft oder schaut Werbung, sieht man Puppen, Barbies, Küchen und Haushaltsgeräte für Mädchen und Bagger, Werkzeug, sowie Dinosaurier für Jungen. Damit verdeutlicht man den Kindern bereits sehr früh Geschlechterrollen und ihre spätere Aufgabe in der Gesellschaft.

Wie das Patriarchat überwunden werden kann

Wie kämpfen wir also gegen die Unterdrückung? Hierzu wurde bereits in der österreichischen Frauenbewegung in den 1970er die Hypothese aufgestellt, dass die Bekämpfung des Patriarchats nur mit einem wirtschaftlichen Umbruch geschehen kann. Das heißt, dass der zurzeit bestehende Kapitalismus beendet werden müsse. Denn der Kapitalismus sei maßgeblich an der Beibehaltung des Patriarchats interessiert. Auf die heutigen Standards bezogen liegt dieses Interesse darin, den Haushalt aus dem Leben des Mannes auszulagern, um die Möglichkeit einer möglichst langen Arbeitszeit zu erzielen. Die Frauen werden somit als ,,schwächeres’’ und ,,geburtsfähiges’’ Geschlecht dazu genutzt, diese Aufgaben zu übernehmen.

Hinzukommt, dass der Kapitalismus als Wirtschaftssystem weitere negative Seiten aufzeigt. Denn er lebt vom Ausbeuten eines Teils der Menschheit, um einen sehr kleinen Teil im Wohlstand leben zu lassen. Er sorgt für die Zerstörung der Umwelt und stellt die Gewinnmaximierung über das Wohl aller Menschen. Dieses System wird in Zukunft aber gezwungenermaßen zu einem Ende kommen, da wir auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen leben und somit ein dauerhaftes Wachstum nicht möglich ist.

Momentan erscheint die aktive Zerstörung des Patriarchats und des Kapitalismus jedoch als Utopie. Die Lebensumstände der meisten Europäer sind zu gut, um dem Kapitalismus durch eine Revolution entgegenzuwirken und den Menschen, die zu Hungerlöhnen ausgebeutet werden, fehlt es an Wohlstand und Bildung, um einen organisierten Widerstand aufleben zu lassen. Jeglicher Protest würde niedergeschlagen werden. Außerdem sind sie auf ihre zwar geringe, aber trotzdem notwendige Bezahlung angewiesen. Sie befinden sich also in einer Sackgasse, aus der sie nicht mehr herauskommen.

Bevor es zu einer revolutionären Bewegung in Deutschland kommen könnte, müsste es eine Phase der Krise und starke Unzufriedenheit mit der bestehenden Regierung geben sowie zur Verweigerung vorheriger Rechte und einem sinkenden Wohlstand.

Doch es wird gezwungenermaßen zu einem Ende kommen müssen, da wir auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen leben und somit ein dauerhafter Wachstum nicht möglich ist. Dieses Ende wird wohl früh oder später auf uns zukommen. Auch die Idee des grünen Kapitalismus wird nicht die Lösung sein, um eine friedliche Koexistenz des Kapitalismus und des Umweltschutzes zu gewährleisten. Da erneuerbare Energien dem wirtschaftlichen Wachstum nicht gewachsen seien.

Was lässt sich aber aktuell gegen Unterdrückung und für die Gleichstellung aller unternehmen?

Dazu lasst uns noch einmal auf den fiktiven Tagesablauf zurückschauen. Denn erschwerend zu Claudias Erfahrungen können noch weitere Faktoren kommen, mit denen sie nicht umgehen muss, wie Homophobie, Ableismus oder Rassismus. Deswegen appelliere ich ausdrücklich für intersektionalen Feminismus. Dies ist ein Konzept, das vor allem von Kimberlé Crenshaw geprägt wurde. Der Begriff stammt vom Wort ,,Intersection’’, welches sich als Straßenkreuzung übersetzen lässt. Dadurch soll die Vielfältigkeit der Diskriminierung aufgezeigt werden und verdeutlichen, dass mehrere Kriterien bzw. die Zugehörigkeit zu verschiedenen Minderheiten zur Diskriminierung führen können. Somit besteht also nicht nur durch Sexismus, sondern ggf. gleichzeitig auch durch Homophobie oder Rassismus eine strukturelle Unterdrückung.

Die Metapher der Kreuzung zeigt zudem noch auf, dass das Unfallrisiko in der Mitte der Kreuzung am höchsten sei, was übertragen verdeutlicht, dass die Wahrscheinlichkeit, diskriminiert zu werden, mit der Anzahl an Minderheiten, zu der man gehört, steigt.

Achtet also darauf, nicht nur Menschen, deren Privileg aufgrund ihrer Hautfarbe, sozialen Standes oder Sexualität größer ist, den Weg zu ebnen, sondern setzt euch wirklich für die Gleichberechtigung aller ein. Gebt ihnen, wenn möglich, ein Sprachrohr. Erzieht eure Kinder mit tolerantem, feministischem Gedankengut und unterbindet Geschlechterrollen. Legt Wert darauf, ihnen zu verdeutlichen, dass sie sich selbst so verwirklichen dürfen, wie sie möchten, lieben dürfen, wenn sie möchten und ihre Meinung äußern sollen. Setzt euch für Gesetzesänderungen ein, wie für die Legalisierung von Abtreibungen. Verändert das System so weit wie möglich!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert