Baltischer Weg in Litauen (Foto von Kusurija auf Wikimedia)
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Es ist der 9. November 1989, nach 28 langen Jahren fiel die Berliner Mauer. Unzählige Proteste in der DDR haben für diesen Moment gesorgt, es war den Bürgern Ostdeutschlands nun endlich möglich, die westliche Grenze zu übertreten. Ähnlich war es im Baltikum – Estland, Lettland und Litauen litten auch nach Kriegsende unter der unfreiwilligen Eroberung durch die Sowjetunion im Jahre 1940, sodass sie sich bereits drei Monate vor Mauerfall dazu entschlossen, auch zu protestieren. Aber nicht so, wie man es sich üblicherweise vorstellen mag.
Ein solcher Protest wäre doch ohne Widerstand der Sowjetunion gar nicht möglich, vor allem zur Zeit des Kalten Krieges, mag man sich zumindest denken. Doch es war ganz anders – um die 2 Millionen Menschen aller drei baltischen Staaten versammelten sich am 23. August 1989 zusammen auf den Straßen und bildeten eine mehr als 600 Kilometer lange Menschenkette vertikal durch das gesamte Baltikum, um für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten zu protestieren. Es war ein friedlicher Protest, ohne Gewalt, Schüsse und Blutfließen, doch mit Händehalten und Singen. Und ob man es glauben mag oder nicht, auch mit Erfolg.

Die Singende Revolution
Am 11. März 1990 erklärte Litauen schließlich formell seine Unabhängigkeit, Estland und Lettland folgen nur zwei Monate später. Moskau hielt davon allerdings nichts, weshalb die Unabhängigkeitserklärungen bloß für eine Art Übergangsphase zur Souveränität sorgten. Als es schließlich am 19.-21. August 1991 zu einem unerfolgreichen Putsch in Moskau gegen Gorbatschow kam, nutzen die drei baltischen Staaten die Lage und erklärten nun offiziell ihren Austritt aus der Sowjetunion. Noch im selben Monat erkannte die EU das Baltikum als unabhängig an, seitens der Sowjets geschah dies erst am 6. September 1991.
Zwar waren es nur drei kleine Staaten, die aus der Sowjetunion austraten, doch diese lösten eine gewaltige Kettenreaktion aus. Der Wunsch nach Souveränität stieg in den einzelnen Sowjetrepubliken enorm an und gepaart mit den politischen und wirtschaftlichen Krisen der Union sorgte dies letztendlich für deren Zerfall.
Doch dieser Wandel kam nicht aus dem Nichts – im Baltikum begann alles mit der „Singenden Revolution“. Bereits im Jahre 1987 kämpften viele Balten für ihre Unabhängigkeit, und zwar mit Gesang. Dazu versammelten sich Hunderttausende zu friedlichen Protesten auf öffentlichen Plätzen und gesungen wurden dabei nur ganz bestimmte Texte – Lieder auf Estnisch, Lettisch und Litauisch. Dies hatte einen ganz einfachen Grund: die Unterdrückung von Nationalsprachen der einzelnen Sowjetrepubliken. Beispielsweise wurde Schulunterricht nur in Russisch gegeben, es fand also eine klare Russifizierung statt und das Ausüben der eigenen Kultur wurde gar nicht gerne gesehen. Somit sah man es als perfekten Mittel zum Protest an, Lieder in der eigenen Sprache zu singen – dies sorgte für ein klares Statement nach außen, ein Statement für Unabhängigkeit.
Und clever war es auch – wie würde es denn nach außen wirken, wenn die Sowjets Leute inhaftieren, die nichts anderes getan haben, als friedlich zu singen?

Eine Menschenkette für die Unabhängigkeit
Strengstens verboten war es vor allem, wenn baltische Lieder auch nur ansatzweise Nationalstolz zeigen. Ein perfektes Beispiel dafür sind die lettischen „Dainias“-Volkslieder bzw. Gedichte, welche sich oftmals mit lettischer und baltischer Mythologie beschäftigten und von denen viele schon Jahrhunderte alt sind. Zwar sind Dainas mit ihren üblicherweise vier Zeilen sehr kurz, aber dennoch gaben sie der lettischen Bevölkerung ein perfektes Mittel zum Protest. Und diese kamen nie zu kurz – heutzutage gibt es Schätzungen, die von rund 1,2 Millionen Dainas ausgehen, die jemals zu Papier gebracht wurden.
Diese Dainas spielten auch beim „Baltischen Weg“ eine riesige Rolle, der mit rund 600 Kilometern längsten Menschenkette der Welt. Anlass war der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes im Jahre 1989, denn wie viele Leute oft vergessen, war der Inhalt des Paktes nicht nur die Aufteilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion, sondern auch die Aufteilung des Baltikums.
Somit entschieden sich Volksfrontbewegungen in den drei Ländern, den friedlichen Protest, welcher sich durch alle drei Hauptstädte des Baltikums (Tallinn, Riga und Vilnius) ziehen sollte, zu organisieren, und zwar mit nur einem Ziel: Unabhängigkeit. In ihren Absichten wurden sie ebenso bestärkt, da die baltischen Staaten es bereits im Jahre 1918 schafften, sich nach dem Zerfall des Russischen Reiches unabhängig zu machen. Wenn es nämlich schon nach dem Ersten Weltkrieg funktionierte, wieso nicht auch nach dem Zweiten? Dabei fällt auch auf, dass der Zweite Weltkrieg zum Zeitpunkt der Singenden Revolution bereits seit rund 45 Jahren beendet war – die meisten Staaten gelangten nach dem Krieg ihre Unabhängigkeit zurück, die Balten jedoch nicht. Trotz Ende des Krieges ging die Unterdrückung also weiter.
Insgesamt waren es um die 2.000.000 Balten, die sich an den Händen hielten, um für die Freiheit des eigenen Landes zu kämpfen. Beziehungsweise zu singen. Zur damaligen Zeit war das ca. ein Viertel der gesamten baltischen Bevölkerung. Gesungen wurde beispielsweise das Lied „Bunda jau Baltija“ (litauisch), „Atmostas Baltija“ (lettisch) bzw. „Ärgake Baltimaad“ (estnisch), ein Lied, welches gesondert für den Baltischen Weg komponiert wurde und Strophen in allen drei Nationalsprachen des Baltikums beinhaltet. Aus diesem Grund hat das Lied ebenso drei unterschiedliche Titel, je einen für jede Sprache. Auch noch heute ist das Lied, dessen Titel auf Deutsch etwa „Wacht auf, Baltische Staaten“ bedeutet, sehr beliebt und wird noch oft von baltischen Musikern bei Auftritten gespielt. Unter folgendem Link kann man sich das Lied anhören: https://youtu.be/0KoKq20RUl0?feature=shared
Doch Moskau ließ sich selbst von solch patriotischen Liedern nicht abschrecken.

Folgen der Revolution
Erst zwei Jahre nach dem Protest gelang es den Balten, ihre Unabhängigkeit tatsächlich umzusetzen. Doch in der Zeit nach 1989 reagierte die Sowjetunion nicht so ignorierend, wie sie es beim Baltischen Weg taten, ganz im Gegenteil. Proteste, die aufgrund ihrer Harmlosigkeit nicht mal richtig als Proteste wahrgenommen werden können, wurden blutig niedergeschlagen. Beispielsweise in Litauen, als es am 13. Januar 1991 dazu kam, dass sowjetische Einheiten den Fernsehturm in Vilnius stürmten. Daraufhin entschieden sich viele Litauer, sich auf den Straßen vor dem Parlament zu versammeln, um dieses und die litauischen Abgeordneten zu schützen. All dies geschah unbewaffnet und mit friedlichen Absichten, dennoch verletzten sowjetische Truppen hunderte Menschen, 14 kamen ums Leben.
Ähnliches geschah auch nur sieben Tage später in Lettland, als hunderttausende Letten versuchten, den Rundfunk und auch das Parlament mit Barrikaden zu schützen. Dabei kamen fünf Menschen ums Leben. Diese sowjetische Reaktion auf das Verlangen nach baltischer Unabhängigkeit wurden unter anderem von vielen westlichen Staaten stark kritisiert, als Folge erkannte die EU beispielsweise die Unabhängigkeit der Balten schon kurz nach deren Verkündung an.

Heutige Relevanz der Proteste
Aus heutiger Sicht kann man als Folge der Singenden Revolution feststellen, dass die baltischen Staaten sich immer mehr in Richtung Europa bewegen. Sei es der EU-Beitritt der drei Länder im Rahmen der EU-Osterweiterung im Jahre 2004 oder auch die spätere Einführung des Euros, das Baltikum scheint immer mehr in Richtung Westen zu rücken, was als Sowjetrepublik zu Zeiten des Kalten Krieges undenkbar gewesen wäre. Doch nicht nur wirtschaftlich ergaben sich im Baltikum schwerwiegende Änderungen, auch militärisch, beispielsweise durch den NATO-Beitritt im Jahre 2004.
Doch der Baltische Weg hatte auch Auswirkungen außerhalb des Baltikums, denn viele Proteste mit ähnlicher Herangehensweise wurden vom Baltischen Weg inspiriert. Ein Beispiel dafür wäre eine ca. 60 Kilometer lange Menschenkette in Hong Kong, welche am 23. August 2019 und somit dem 30. Jahrestag des Baltischen Weges stattfand. Auch in der Ukraine wurde am 21. Januar 1990 in Hoffnung eines eigenen souveränen Staates eine Menschenkette organisiert.
Der Baltische Weg bleibt also relevant und stellt einen großen Teil des baltischen Unabhängigkeitskampfes dar. Dementsprechend wird sich auch viel an den Protest erinnert, sei es nun mithilfe einer litauischen Gedenkmünze zum 10-jährigen Jubiläum des Protests oder auch mithilfe eines Laufes durch Riga am 20. Jahrestag. Die Menschenkette wird also wohl noch für lange Zeit in den Köpfen der Balten bleiben und erinnert an eine kalte Zeit, eine Zeit, in der die Unterdrückung der eigenen Kultur zum Alltag geworden ist.